Kultur

„We will be removed“ von Johannes Wieland im Kulturhaus Dock 4 (Kassel)

Silversurfer im Geschwindigkeitsrausch


Meimouna Coffi
GDN - Am vergangenen Wochenende konnte ein tanzinteressiertes Publikum im Kulturhaus Dock 4 in Kassel mit „We will be removed“ den zweiten Teil der „Removed-Trilogie“ von Johannes Wieland erleben. Nach dystopischen achtzig Minuten spendeten die Zuschauer:innen reichlich Beifall für ein tolles Ensemble.
Am 13. Juli 1985 fand mit dem Live Aid-Konzert eines der aufsehenerregendsten Spektakel der zumindest jüngeren Musikgeschichte statt. Der Musiker Phil Collins zeigte an jenem Tag außerordentliches Engagement. Unmittelbar im Anschluss an seinen umjubelten Auftritt in London ließ er sich von einem bereitstehenden Helikopter zum Heathrow Airport befördern, wo er das Überschallflugzeug Concorde bestieg, innerhalb weniger Stunden New York City erreichte, sich dort erneut in einen Hubschrauber begab, um kurz darauf in Philadelphia abermals auf einer Konzertbühne am Klavier zu sitzen.
Was damals als Sensation galt und manchen Zuschauer vor den Bildschirmen veranlasste, sich ungläubig die Augen zu reiben, kann in der Rückschau, in einer Zeit, in der Milliardäre in den Weltraum fliegen und der Mars als Nahziel ausgerufen wird, als eine von vielen Etappen im anschwellenden, menschlichen Geschwindigkeitsrausch betrachtet werden.
Gemächlich scheint es zunächst im Kasseler Kulturhaus Dock 4 zuzugehen, wo die im Vorraum wartenden Zuschauer:innen von einem Tennisspieler, der in sich gekehrt einen Ball regelmäßig aufprallen lässt, abgeholt werden. Wie die akustischen Impulse eines Metronoms hallt der rhythmische Klang des vom Boden abprallenden Tennisballs durch den Raum.
Hendrik Hebben & Fabian Riess
Johannes Wieland setzt sich in seiner aktuellen Arbeit damit auseinander, wie wir Menschen im Zeichen von Tempo und Transit in einen instabilen Zustand geraten und den Halt zu verlieren drohen. 2016 wurde der Choreograf für den ersten Teil seiner Removed-Trilogie für den Faust-Preis nominiert, als er, damals noch am Staatstheater Kassel tätig, sein Ensemble in ein leeres Schwimmbecken, das somit seine ursprüngliche Funktion eingebüßt hatte, schickte.
Mittlerweile haben die Zuschauer:innen in der Turnhalle des Kulturhauses ihre Plätze eingenommen und beobachten den besagten Tennisspieler. Dieser schlägt in Ermangelung eines Mitspielers die Bälle gegen die Wand, die im Gegensatz zu einem menschlichen Spielpartner jeden Ballwechsel zwangsläufig für sich entscheidet. Das Tennisspiel wird im Verlaufe des Tanzabends wiederholt als Bild verwendet.

Aufgrund seiner Historie als Sport der Upperclass und der daraus resultierenden Kleiderordnung wird gerne vom „weißen Sport“ gesprochen und in Wimbledon gar vom „heiligen Rasen“. Das Publikum wird im Gegensatz zu den meisten anderen Sportarten mit den theatralen Worten „Quiet please“ zur Lautlosigkeit aufgefordert. Derart rein sind die Tennisdresse bei Johannes Wieland nicht und vornehm oder gar lautlos geht es auch nicht zu.
Noch vor einer Woche wurde „we will be removed“ auf einer Verkehrsinsel inmitten der Großstadt Berlin, umgeben von deren grenzenloser Mobilität uraufgeführt und somit der traditionelle Theaterraum verlassen. Nun wurde das Stück für eine Kasseler Turnhalle, jenem Ort, der für Fitness, Geschwindigkeit, Sport und Wettbewerb steht, adaptiert. Doch führen auch hier die Tänzer:innen das Publikum mehrmals hinaus in den Hof, wo Stufen, Bäume und gegenüberliegende Gebäude in die Performance, die dadurch an Spannung und Lebendigkeit gewinnt, einbezogen werden.
Doch Johannes Wieland durchbricht nicht nur etablierte Raumgrenzen, sondern auch die gängige Kategorisierung von Kunst, die er als Sichtweisen verkürzende und Ausdrucksmöglichkeiten einschränkende Illusion erkennt. So entstehen während des Abends viele assoziative Bilder. Auf der Bühne wird gesprochen, geschauspielert und natürlich auch getanzt. Entsprechend hoch sind die Ansprüche an das großartige Ensemble, bestehend aus Chris-Pascal Englund Braun, Meimouna Coffi, Jordan Gigout, Hendrik Hebben, Fabian Riess und Gotaute Kalmataviciute, die bereits im ersten Teil „you will be removed“ im Jahr 2016 auf der Bühne in Kassel stand.
Die sechs Tänzerinnen und Tänzer konstruieren teils arglistige, verwirrte Charaktere wie die einsame, sich zu einem Gott aufschwingende Figur, den heimatlosen, entrückten Silversurfer oder eine ihre Vormachtstellung verteidigende und sich bewaffnende Sally, die allesamt nach etwa achtzig dystopischen Minuten in einem grotesken, ekstatischen Tanz enden.

Mit großem Applaus verabschiedet das Publikum die Künstler:innen und ist zweifellos dankbar, dass Johannes Wieland nach seiner langjährigen Tätigkeit als Tanzdirektor und Hauschoreograf am Staatstheater Kassel, während der es ihm gelungen ist, den Tanz in Kassel zu etablieren und eine beachtliche Fangemeinschaft für diese Kunstform zu gewinnen, seine Verbindung zur Stadt nach wie vor aufrechterhält.
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