Kultur

Unschuldig oder schuldig? Held oder Mörder?

“Terror“ im Staatstheater Kassel


(Quelle: N.Klinger)
(Quelle: N.Klinger)
GDN - Das Erfolgsstück “Terror“ von Ferdinand von Schirach, das seit vergangenem Herbst auf Theaterbühnen in ganz Deutschland zu sehen ist, zieht auch das Publikum in Kassel in seinen Bann. Regisseur Patrick Schlösser bringt das aktuelle und brisante Stück wohltuend unprätentiös auf die Bühne.
Kann und darf man Menschenleben gegeneinander aufwiegen? Dies ist die zentrale Frage, die es im Verlauf der Gerichtsverhandlung, die das Publikum im Kasseler Staatstheater von der ersten Minute an aufmerksam und gespannt verfolgt, zu klären gilt. Angeklagt ist ein Major der Luftwaffe, der sich, um das Leben von 70 000 Menschen zu retten, dem Befehl seiner Vorgesetzten widersetzt und die von einem Terrorist entführte Passagiermaschine abgeschossen hat.
Quelle: N.Klinger
Das gekaperte Flugzeug nahm Kurs auf ein voll besetztes Fußballstadion und der Kidnapper ließ keine Zweifel an seinen kaltblütigen Absichten aufkommen. Ist Lars Koch ein Held, dem 70000 Menschen ihr Leben verdanken oder ein 164facher Mörder, wie es die Anklage einschätzt? Wie beurteilt das herrschende Recht diesen Fall? Empfinden wir dieses Recht zugleich als gerecht?
Nach den viel diskutierten Uraufführungen in Berlin und Frankfurt, ist das Staatstheater Kassel das mittlerweile 17.Haus, an dem das Erfolgsstück zur Aufführung kommt. Manche Regisseure haben mittels Musik- oder Videoeinspielungen versucht, dem für ein Theaterstück recht trockenen und kargen Text, mehr Ästhetik und Theatralik zu verleihen. Anderen Inszenierungen haben den Ort des Geschehens verfremdet, vermeintlich um somit die grundsätzlichen Fragen, die das Stück aufwirft, hervorzuheben.
Regisseur Patrick Schlösser (Inszenierung und Bühne) verzichtet bei seiner Kasseler Aufführung auf derartige Mittel, stellt mit seiner zurückhaltenden Regie den Text, die Argumentationen der jeweiligen Parteien, in den Mittelpunkt und lässt das Geschehen in einem Gerichtssaal, genau dort wo Ferdinand von Schirach es verortet hat, stattfinden. Auch die wirklichkeitsgetreuen Kostüme (Uta Meenen) sowie die Sprache und das Auftreten der Protagonisten vermitteln dem Zuschauer den Eindruck, einer realen Gerichtsverhandlung beizuwohnen.
Damit eine derartige Inszenierung gelingen und die Zuschauer fesseln kann, ist ein gut funktionierendes, eingespieltes Ensemble sowie eine kluge Rollenbesetzung vonnöten. Beides kann der Kasseler Inszenierung unzweifelhaft bescheinigt werden. Jeder der beteiligten Akteure versteht es, im Rahmen der textlichen Vorgaben, seiner Figur Charakter und Persönlichkeit zu verleihen.
Verbale wie auch nonverbale Scharmützel zwischen den Protagonisten sorgen dabei nicht nur für Erheiterung, sondern eröffnen zudem neue Ebenen, wenn etwa Gegensätze beruflicher, sozialer oder geschlechtlicher Rollen spürbar werden.
Darüber hinaus dienen die Charakterfärbungen aber ebenso dem eigentlichen Thema, denn je sympathischer oder unsympathischer der Angeklagte Lars Koch wirkt, desto eher mag man sich dabei ertappen, dass dieses Empfinden auch auf die persönliche Beurteilung des Falles Einfluss nimmt.
Interessant ist vor allem die Besetzung der beiden Anwälte. Entgegen den gewohnten Rollenbildern wie sie aus entsprechenden Kino- und Fernsehfilmen, in denen sich zumeist ein verhärteter Staatsanwalt eine verbale Schlacht mit einem mitfühlenden Verteidiger liefert, bekannt sind, erlebt der Zuschauer in Kassel einen angriffslustigen, kühlen und sarkastischen Verteidiger (Christoph Förster) sowie eine zwar zielstrebig und analytisch agierende, dabei aber stets charmant und wohlmeinend wirkende Staatsanwältin (Sabrina Ceesay). “Die Staatsanwältin hat schon einen gewissen Charme und sich dem zu entziehen ist schon schwierig“, raunt ein Zuschauer kurz vor der Urteilsverkündung.
Quelle: N.Klinger
Somit wird der Zuschauer sowohl durch das Auftreten der beteiligten Personen, aber vor allem angesichts der vorgebrachten Standpunkte wiederholt bezüglich seiner Einschätzung verunsichert und sieht sich gezwungen seine Überzeugungen zu hinterfragen und konträre Argumente abzuwägen. Wären die unschuldigen Menschen in dem Passagierflugzeug nicht ohnehin, nur wenige Minuten nach dem erfolgten Abschuss, bei dem Terrorakt umgekommen? Hätte das Stadion in München noch rechtzeitig geräumt und die Zuschauer evakuiert werden können? Wäre es denkbar, dass die erwartete Katastrophe durch glückliche Umstände doch noch hätte verhindert werden können? Darf ein einzelner Mensch über das Leben anderer Menschen entscheiden?
Muss der Staat angesichts der Bedrohungslage den Terroristen zeigen, dass er keineswegs wehrlos agiert, sondern durchaus in der Lage ist einzugreifen, wenn eine zufällig ausgewählte Gruppe von Bürgern zum Ziel eines geplanten Attentats wird? Ist dieses, der Schutz der eigenen Bevölkerung, nicht gar seine Pflicht? Oder müssen wir gerade angesichts des irrational erscheinenden Terrors an unserer festen Ordnung und an den Prinzipien des Rechtsstaates festhalten?
Dieser Abend bietet demnach reichlich Diskussionsstoff und in der Tat entwickeln sich in der Pause unter den Zuschauern intensive Debatten über die persönlichen Beurteilungen des bislang auf der Bühne Gesehenen und Gehörten. Alleine die Tatsache, dass der Inhalt des Stückes den gängigen Small Talk während der Pause ersetzt, ist großartig und offenbart die Aktualität und Brisanz des Stückes.
Zudem verdeutlicht das Verhalten des Publikums, dass sich hinter der vordergründigen Frage, ob der Angeklagte Lars Koch als schuldig oder unschuldig anzusehen ist, eine weitere Ebene verbirgt, denn das Stück liefert nicht nur Erkenntnisse über das Handeln und Denken, die Motivationen und Prinzipien des Angeklagten, sondern ebenso darüber, nach welchen Grundsätzen die Gesellschaft - zumindest soweit sie in einem Theatersaal repräsentiert wird - ihr Zusammenleben ausrichten und organisieren will.
Dieses wird durch einen Kunstgriff des Autors noch gesteigert, denn bereits zu Beginn der Vorstellung erfährt das Publikum, dass es die Rolle der Schöffen einnehmen und am Ende der Gerichtsverhandlung per Abstimmung das Urteil fällen wird.

Quelle: N.Klinger
Nach einer kurzen Pause muss sich jeder Anwesende entscheiden durch welchen der beiden zur Verfügung stehenden Eingänge, die jeweils für “schuldig“ und “unschuldig“ stehen, er in den Theatersaal zurückkehrt. Sämtliche Zuschauer werden dabei, nach dem Prinzip des “Hammelsprungs“, gezählt und anschließen das Ergebnis von der Richterin verkündet. Die bisherigen, deutschlandweiten Zuschauerentscheidungen können im Internet unter http://terror.kiepenheuer-medien.de verfolgt werden. Die vorliegenden Ergebnisse, so auch jene in Kassel, zeigen, dass die Mehrheit, wenn auch durchaus knapp, zum jetzigen Zeitpunkt für “unschuldig“ plädiert.
Die vergangenen Richtersprüche - ebenso wie die Pausendiskussionen - belegen, dass obwohl die vorliegenden Fakten unzweideutig sind, die Bewertung der selbigen dennoch äußerst schwierig erscheint, denn der gelernte Jurist Ferdinand von Schirach bietet für jede Alternative überzeugende Argumente.
Letztlich scheint jeder Zuschauer bei der Abgabe seines Votums seiner eigenen, inneren Logik zu folgen. Es ist daher keineswegs eine rationale, vernünftige Entscheidung, die hier gefällt wird, sondern ein Urteil, das von der persönlichen Biografie, die wiederum Grundhaltungen und Prinzipien geformt hat, abzuhängen scheint oder wie es der Angeklagte Lars Koch während des Stückes auf eine Frage der Staatsanwältin sagt: “Jede Antwort wäre falsch.“
Quelle: N.Klinger
Eindeutig ist hingegen, dass dem Publikum in Kassel ein lohnender und packender Theaterabend geboten wird, bei dem die wenig literarische Textvorlage gelungen, inszenatorisch zurückhaltend und mit einem lobenswerten Ensemble wirkungsvoll auf die Bühne gebracht wird. Karten für weitere Vorstellungen sind an der Kasse des Staatstheaters (Tel.: 0561/1094-222) oder online unter www.staatstheater-kassel.de erhältlich.
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